Auch heute zieht es viele junge Brasilianer in die Großstädte. Doch manche kehren wieder zurück.
Am 15. November ist in Brasilien Nationalfeiertag. Dieses Jahr findet er an einem Freitag statt. Viele Menschen nutzen in diesem Jahr das verlängerte Wochenende, um die Großstädte zu fliehen.
Morretes ist ein beliebter Ausflugsort nicht weit weg von Curitiba. Zwischen beiden Orten gibt es eine der wenigen Zugverbindungen Brasiliens, die auch Personen befördert. Der Zug fährt durch eine paradiesische Landschaft, der Serra do Mar. Obwohl Morretes nicht direkt am Meer liegt, ist der Ort von Touristen überlaufen.
Juliano (30) ist in Morretes aufgewachsen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Frau und er haben sich ein kleines Haus gebaut, neben dem seiner Eltern. Juliano lebt sehr gerne in Morretes. Dort erreicht man alles mit dem Fahrrad. Die Natur ist gleich vor der Haustür. Die Kinder könnten eigentlich unbesorgt auf der Straße spielen. Wäre da nicht seine Frau, die beim täglichen Frühstücksfernsehen sich in ihrer Angst bestätigt fühlt: Mord und Totschlag in Rio, Unfalltote in einem Vorort von Porto Alegre, Schwerverletzte vor einer geschlossenen Klinik.
Facebook ist billiger als eine Dose Cola
In Morretes gab es seines Wissens, im letzten Jahr nur eine Demonstration. Er selbst konnte nicht dabei sein, denn er musste in Curitiba arbeiten. Allerdings versteht er den Unmut der Leute. Die einzige Klinik der Umgebung ist überfordert. Viel zu lang warte man auf eine Behandlung, und manchmal ist sie auch einfach geschlossen.
Es sind die jungen Bewohner der Kleinstadt, die sich die Frage stellen wie sie morgen leben wollen. Die Demonstration wurde von ihnen über das Internet organisiert, und zwar unabhängig von ihrem Bildungsstand. „Ins Internet kann jeder“, erzählt Juliano. „Man braucht dafür nicht einmal einen eigenen Computer. Eine Stunde im Internetcafé kostet 3 Real, und ist billiger als eine Dose Cola“.
Unsere Plantagen sind voll von Schwarzarbeiter
Junge Erwachsene sieht man unter der Woche in Morretes kaum. Viele arbeiten in Curitiba. Manche pendeln jeden Tag 200 Kilometer. Die meisten bleiben gleich dort, und besuchen ihre Familien nur sonntags.
Heute arbeitet Juliano nicht mehr in Curitiba, sondern in der Tourismusbranche in Morretes. „Das war aber ein langer, harter Weg in der eigenen Heimatstadt eine gute Arbeit zu finden“, meint er. Seine Kariere begann als 15 jähriger auf den Plantagen nicht weit weg von seiner ehemaligen Schule. In Morretes leben viele Großgrundbesitzer. Sie bauen Bananen, Zuckerrohr und Gemüse an. Juliano ist sich sicher, dass sie auch heute noch gemeinsam mehr Macht besitzen als die Stadtverwaltung. In Brasilien sind nicht registrierte Arbeitsverhältnisse genauso verboten wie in Deutschland. Morretes Plantagen sind trotzdem voll von Tagelöhnern, die pro Stunde weniger als 2 Real verdienen. Und da ihre Arbeitsplätze nicht registriert sind, erhalten sie bei Bedarf keine Sozialversicherungsleistungen.
Wenn Deine Eltern Tagelöhner sind, wird es für Dich schwer keiner zu werden
Mit 25 Jahren beschloss Juliano sich einen registrierten Job zu suchen. In Morretes ist das kaum möglich, weil die wenigen registrierten Arbeitsplätze unter der Hand an Familienmitglieder von bereits Angestellten vergeben werden. Daher zieht es viele in die Großstadt. In Curitiba werden immer Arbeitskräfte in Fabriken oder im Dienstleistungssektor gesucht. Zunächst wohnte und arbeitete Juliano für einige Monate in einer Fabrik. Er sah seine Familie nur sonntags. Er ertrug es bald nicht mehr „beziehungslos“ zu leben, und arbeitete wieder auf den Plantagen Morretes. Doch da dies auf lange Sicht für ihn keine Perspektive darstellte, versuchte er es nun im Dienstleistungssektor Curitibas.
„Du kannst nicht einfach an der Rezeption anfangen zu arbeiten, oder in einem Restaurant. Du musst Dich Stufe für Stufe hocharbeiten. Du beginnst als Rasenmäher. Dann arbeitest Du als Reinigungskraft, Parkwächter, Laufbote, und irgendwann kommt man als Kellner oder für die Hotelrezeption in Frage.“
Die WM ist ein weißer Elefant
Es gibt keine formale Ausbildung, dafür aber ungeschriebene Gesetze auf dem Weg zu einem guten Job im Dienstleistungssektor. Im Rahmen der anstehenden WM werden kurzfristig neue Arbeitsplätze dieser Art entstehen. Brasilien muss aber viel Geld für die Ausrichtung der WM bezahlen. „Wir haben es doch in Südafrika mit ansehen können“, meint Juliano. „Die WM war die Investition in einem weißen Elefanten. Die Reichen haben die WM ausgerichtet. Die Armen haben sie mit größerer Armut bezahlt, wegen der leeren Staatskassen.“
Juliano hatte Glück. Vor wenigen Monaten hat er eine neue Arbeit in Morretes begonnen. Er hat nach nun 15 Jahren einen Arbeitsplatz in seiner Heimatstadt gefunden. Er arbeitet in der Tourismusbranche. Er strengt sich an, denn er ist noch in der Probezeit. Er hat aber noch härter dafür arbeiten müssen, um überhaupt diese Probezeit antreten zu können.