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199 Tage bis nach der WM – Gstetten

27. Dezember 2013

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Effektivität lohnt sich nicht, sowohl auf dem Feld als auf dem Rasen.

J. Cirino (31) ist Moderator des erfolgreichen Regionalsenders Lagoa-FM. Seine humorvolle Strategie für die WM 14 lautet:  „Der Trainer muss nur unsere südbrasilianischen Trinkregeln einführen. Wenn die Nationalelf sie verinnerlicht, ist uns der nächste Titel sicher. Denn wie der Becher, so der Ball.
1. Nimm den Becher immer mit der Rechten an. 2. Bedanke Dich bei dem, der Dir den Becher reicht. 3. Ziehe durch, bis nichts mehr geht. 4. Am Schlürfen erkennst Du, dass nichts mehr geht. 5. Statt dich am Becher festzukrallen, gib ihn lieber ab. 5. Benutze die Linke, falls Du gerade mit der Rechten verhindert bist.


Cirino trinkt kaum Alkohol. Viel zu oft muss er über Autounfälle direkt vor Ort berichten. Seine Regeln gelten für den „chimarrão“. Das Getränk wird  Mithilfe eines wiederverwendbaren Metallstrohhalms und aus schön verzierten Holzgefäßen getrunken. „Wegen unserem Matetee hatten wir in der Vergangenheit schon einige Kriege geführt. Und zwar immer dann, wenn jemand sein Anbau verbieten wollte.“, sagt Junior.

Der Regionalsender Lagoa-FM trifft mit seinem Programm die Grundstimmung des Gauchos. „Die Berichterstattung rund um die WM sollte regionalgefärbt sein“, sagt Roman (27). Er lebt in Lagoa Vermelha und hört den Sender gern. Bestens gefällt ihm die Mittagssendung. Auf Lagoa FM werden  regionaltypische Musikstile gespielt. Ab 12 Uhr sind die  „bandinhas“ dran, eine mit Samba durchtriebene bayerische Blaskapellenmusik.
„Unsere Zuhörer mögen `bandinhas´“, sagt Cirino. „Kaum jemand außerhalb unserer Region kennt diese Musikrichtung. Aus den Armenvierteln der Stadt erhalten wir jeden Tag zahlreiche SMS-Mitteilungen mit Liedwünschen. Unsere Telefondamen und ich unterhalten uns abwechselnd  mit ihnen über das Wetter, den Unfallopfern des Vorabends, oder aktuelle Themen. Wir nehmen unsere Zuhörer ernst. Ein Regionalsender unserer Größe kann es sich kaum erlauben Interkation im Sinne einer Einbahnstraße zu betreiben. Aber eine internationale Fußball-WM südbrasilianisch zu vermitteln,  da wird zu viel verlangt.“

Die Einwohner aus Rio Grande do Sul haben mit den Bayern eines gemeinsam. Sie sind sehr stolz auf ihre regionalen Gepflogenheiten. Gleichzeitig grenzen sie sich stark von anderen Teilen Brasiliens ab. „Unser Churasco ist das Beste im ganzen Land. Das was in Sao-Paulo vom Grill einem vorgesetzt wird, bekommen wir mit einer einfachen Pfanne besser hin.“, sagt Cirino.
Die Mehrzahl der Einwanderer kommt aus Italien oder Deutschland. Sie haben das ihnen zur Verfügung gestellte Land zu dem gemacht was es heute ist. Schon im Heimatland erhielten sie eine Grundstücksnummer ausgehändigt. Sie mussten sich durch ganz Brasilien durchfragen, bis sie dann im Süden ankamen. Um sie herum war Niemandsland. Nachts mussten sie sich gegen wilde Tiere schützen. Tagsüber machten sie den Urwald urbar. Sie haben diesen Teil Brasiliens zu einem der fruchtbarsten Regionen der Welt gemacht. Eine nicht endende Agrarlandschaft zieht an einem vorbei. Man bekommt leicht den Eindruck, mit dem Ertrag der Ernte die Weltbevölkerung ernähren zu können.

Effektivität lohnt sich nicht, sowohl auf dem Feld als auf dem Rasen.
Familie Opel ist vor fast zweihundert Jahren aus Europa eingewandert. In Ernestina haben sie sich niedergelassen. Einer der Brüder hat vor wenigen Jahren „sich wieder  ´rüber gemacht“. Stefan (41) hat in Stuttgart für einen bekannten Pumpenhersteller gearbeitet. Heute vertreibt er deren Geräte in der Heimat: „Die Deutschen sind mit ihren Landwirtschaftsgeräten uns um rund 30 Jahre voraus. Am Anfang hatte ich Hochachtung vor deren Leistung. Durch mein Deutschlandaufenthalt sehe ich die Dinge heute differenzierter. Ich weiß nun, weshalb sie so innovativ sind. Sie müssen mit wenig Agrarland auskommen. Intensive Landwirtschaft ist für sie ein Muss. In manchen Teilen Brasiliens bringen es naturbedingt bis auf vier Ernten pro Jahr. Deutsche Landwirte müssen uns mit ihren Geräten voraus sein. Wir sollten weiterhin entspannt ernten, statt ihnen nachmachen zu wollen.“

Viele Bauern haben investiert, und sich effektivere Maschinen zugelegt. Statt ihre Gewinne zu steigern, mussten sie allerdings Einbußen hinnehmen. In den letzten Jahren sank der Weizenpreis, weil der Ertrag stieg. Gemindert werden die Gewinne zudem durch strenge Zollbestimmungen. „Wir kamen in Ernestina und Umgebung mit dem Abernten nicht mehr nach.  Ich verstehe nicht, warum die Regierung in dieser Situation auch noch  Weizen aus Kanada und den U.S.A. hinzugekauft hat. Unser Weizen wird bereits verzollt, wenn er die Grenzen Rio Grande do Sul passiert. Importierter Weizen aus Nordamerika hingegen wird nicht verzollt.“, sagt Stefan.
Aus der Sicht von Stefan macht es derzeit keinen Sinn Turbo-Landwirtschaft zu betreiben. Die Regierung unterbindet dies mit einer restriktiven Binnenmarktpolitik. Aus seiner Sicht spricht vieles dafür, dass das Umweltministerium dahintersteckt. Es gibt auch ein neues Gesetz, dass den Anbau von Monokulturen begrenzt.  Oder aber die Regierung spekuliert mit unserem Weizen auf dem Weltmarkt. Genaueres weiß Stefan allerdings nicht. Die Hauptstadt Brasilia ist einige tausend Kilometer weit weg. Verordnungen auf Bundesebene haben Auswirkungen auf Landwirte im Süden. Was sie allerdings bezwecken sollen, wissen die wenigsten. TV-Globo strahlt derweil ein Werbespot der amtierenden Partei. Sie wünscht allen Brasilianer ein schönes neues Jahr. Und jeder Minister verspricht in zwei Sätzen, was er sich für 2014 vorgenommen hat. „Was das der Partei wohl kosten mag“, fragt sich Stefan.

Ähnliches erfährt man beim Regionalsender Lagoa FM, auch wenn es sich um ein anderes Ereignis handelt. Cirino moderiert einmal die Woche eine offene Diskussionsrunde. Seine Talkgäste können spontan entscheiden, über was sie sprechen wollen: „Menschen mit und ohne Fachwissen unterhalten sich im Studio eine Stunde lang über das, was sie gerade bewegt.“, sagt er. Vor kurzem wurde diskutiert, warum der Verkauf von Alkohol in den WM-Arenen zugelassen wird. Der Ausschank ist nämlich in Brasiliens Fußballstadien grundsätzlich verboten. „Die FIFA und internationale Interessen gehen vor Nationalen, so war der Tenor der Diskutierenden.“

Cirino wünscht sich, dass die Sportsgäste aus dem Ausland Brasilien mit einer offenen Haltung besuchen kommen. Als Journalist weiß er aber auch, dass man Menschen nicht verbieten kann, was sie zu denken und zu schreiben haben. Und er hofft, dass in einer der nächsten Sendungen die Spieltaktik der Nationalmannschaft scharf debattiert wird: „Der eingeladene Rechtsanwalt mit einem Metzger, der Chirurg mit dem Bäcker von nebenan. Die Brasilianer sehnen sich wieder nach verspieltem Fußball. Vielen spielt die Nationalelf zu europäisch.“
Vielleicht ist Stefan mit diesem regionalgefärbten Kommentar zufrieden zu stellen:  „ Aus europäischer Perspektive ist ein Fußballfeld etwas ganz Großes. Um sich auf seine Spielfläche bewegen zu können, muss er sie strukturieren. Die südbrasilianische Seele ist Weite gewöhnt. Sie braucht sie nicht zu ordnen. Sie tanzt lieber auf dem Rasen“.

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